Am Hügel der Erinnerungen, wo der mächtige Ahornbaum emporragt und der Weg endet, dieser weiß gekieste Weg, steht das mächtige Tor weit offen, und eine Stimme spricht: "Die Sehnsucht öffnet, was verschlossen war."
Mit diesen Worten beginnt ein Reigen der Erinnerungen. Eingefügt in den großen Rahmen österreichischer Geschichte, wird ein Familiengemälde aus der Sicht zweier Frauen gemalt. So wird ein tiefer Einblick in den Alltag und die Geschehnisse der Zeit vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit gewährt.
"Obwohl genaue Angaben zu den Kriegen durch die 'geschichtskundige Person' gemacht werden, die immer wieder auftritt, um etwas zu den historischen Ereignissen zu sagen, überwiegt der Eindruck, dass es um etwas anderes als um Historie geht: um Liebe, um Tod, um ewige Kreisläufe."
Bernhard Heinrich in Der literarische Zaunkönig
Nicht zufällig ist dieser historische Roman im Gedenkjahr- und Erinnerungsjahr 2018 erschienen, denn der geschichtliche Rahmen spannt sich vom ausklingenden neunzehnten Jahrhundert bis in die Nachkriegsjahre des 2. Weltkrieges.
Wir erleben aus der Sicht einfacher Menschen eines niederösterreichischen Dorfes den ersten Weltkrieg, den Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Oktober 1918, das Ende des ersten Weltkrieges und die Ausrufung der Republik Österreich im November 1918, die Zwischenkriegswirren, den Untergang Österreichs durch den "Anschluss" an Hitler-Deutschland im März 1938 mit all seinen vernichtenden Folgen, der Verfolgung und Tötung von Juden, Andersdenkenden und Menschen mit Behinderung, den 2. Weltkrieg mit der darauf folgenden Besatzungszeit und schließlich die Unterzeichnung des Österreichischen Staatsvertrages am 15. Mai 1955, der das unabhängige und demokratische Österreich wieder herstellt.
Am Hügel der Erinnerungen wird der Erzählerin von den Verstorbenen selbst das Vergangene berichtet, denn es ist nicht wirklich vergangen, "Alles was jemals war und ist und sein wird ist eingebrannt ins ewige Jetzt."
"Als Symbol dieser uralten Gewissheit, dass nichts, was einmal war, unwiderruflich verlorengeht, dient Marési Strommer das Einhorn, dieses uralte mystische Wesen, das die Reinheit, das Gute symbolisiert und das nun die Verbindung zwischen den Lebenden und den Verstrobenen herzustellen weiß und das Chronik und Metaphysik zu einem bunten Teppich des Verstehens und Deutens von Vergangenem zu weben versteht."
"Es lohnt sich, diesen sehr poetischen Ausflug auf den Hügel der Erinnerungen mitzumachen - er wird uns helfen, besser zu verstehen, wer wir sind, weil wir erkennen, wer unsere Vorfahren (auch) waren."
Kursivgestellte Texte stammen aus dem Vorwort von Martin G. Petrowsky
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Am Hügel der Erinnerungen
Am Hügel der Erinnerungen, wo der mächtige Ahornbaum emporragt und der Weg endet, dieser weiß gekieste Weg, steht das mächtige Tor weit offen, und eine Stimme spricht: „Die Sehnsucht öffnet, was verschlossen war.“
Nun steige ich vom Rücken des Einhorns, das mich bis hierher getragen hat. Als ich es aber beim Tor festbinden möchte, schüttelt es bedächtig das wunderschöne Haupt mit der prächtigen Mähne, denn es ist zu Hause angekommen, es gibt keine Fesseln mehr, das Einhorn ist frei.
Ich möchte weiterschreiten, allerdings kann ich nur wie durch Schleier hindurch sehen, mein Schritt findet keinen Halt mehr. Ich taumle, kauere mich nieder und hoffe, dass sie sich heben mögen, die Schleier. Da legt das Einhorn sein Haupt in meinen Schoß, und im selben Augenblick fallen die Schleier wie Spinnweben von meinen Augen und ich sehe den mächtigen Ahornbaum im silbernen Licht des Mondes.
„Wacht auf!“ ruft das Einhorn jetzt mit sanfter Stimme, und nochmals ruft es: „Wacht auf!“ und wie ich meinen Blick mit den Lichttropfen des Mondes vom blätterschweren Haupt des Ahorns hinab zu seinem starken Fuß wandern lasse, beginnt sich aus dem dunklen Stamme eine zarte Frauengestalt zu lösen.
Sie trägt ein schmal zu Boden fließendes, weißes, hoch geschlossenes Spitzenkleid mit bis zu den Ellenbogen hin gepufften Ärmeln und glasklare Sandalen, die mit zarten Riemchen ihre kleinen Füße umschließen. Jetzt kommt sie langsam näher, den Rücken mir zugewandt, und ich sehe die Lichtpünktchen in ihrem hellen, bis weit über die Taille hinab fallenden Haar silbern im Mondenschein aufschimmern.
„Das Zeichen“, spricht nun das Einhorn, „gib ihr das Zeichen.“ Da hole ich aus dem Faltenwurf meines Kleides die kleine Schachtel hervor, entnehme den weißen Blütenflaum und lege ihn in ihre am Rücken wie zu einer Schale geformten Hände. Sie schließt ihre Finger über dem Blütenflaum, löst mit der anderen Hand ein tiefblaues Samtband aus ihrem Haar und legt es in den Nachtwind, der es fortträgt, hinauf zu dem Ahornbaum, hinauf zum Mond, hinauf zu den Sternen, wo es sich in die Unendlichkeit des Himmels hinein verliert. Dann wendet sie sich zu mir um und blickt mich mit ihren großen Augen an, die so tiefblau sind wie das Band, das sie aus ihren Haaren löste. Da ich einmal von ihr den Abriss einer Fotografie gesehen habe, erkenne ich sie sofort. Es ist Katharina, von allen stets Lun genannt, unsere Stammmutter.
Lun lächelt mich freundlich an und spricht mit angenehm melodiöser Stimme: „Willkommen, kleine Tochter, wir haben auf dich gewartet“, dann nimmt sie mich an der Hand und führt mich zu dem mächtigen Ahornbaum hin. Dort sehe ich jetzt an einer festlich gedeckten Tafel im hellen Mondenschein all jene sitzen, nach denen ich mich sehne, alle, wirklich alle.
„Komm, setze dich zu uns“, spricht Lun und rückt mir einen Sessel zwischen sich und Ferdinand zurecht. Ich setze mich und fühle die Blicke aller freundlich auf mich gerichtet. „Trinke“, spricht nun Lun weiter und reicht mir ein Glas Milch, das ich in langen Zügen leere. Lun sieht mich liebevoll an und gießt mir aus einem großen Tonkrug nach. „Stärke dich nur, kleine Tochter“, setzt sie fort, „dein Weg war weit und beschwerlich.“ Nachdem ich mein Glas geleert habe, ergreift Lun erneut das Wort. „Nun wollen wir dir von uns erzählen“, sagt sie, „lausche, kleine Tochter, lausche und schaue, denn alles was jemals war und ist und sein wird, ist eingebrannt ins ewige Jetzt, lausche, kleine Tochter, lausche und schaue.“
...
Erst jetzt bemerke ich die vielen Kinder, die um den Ahornbaum tanzen, immer wieder vergnügt in die Hände klatschen und dabei hellauf lachen.
...
Wie alt ist man am Ahornhügel? „Hier gibt es keine Zeit“, spricht Lun, „und darum gibt es auch kein Alter. Man ist, wer man ist“, und plötzlich ist sie selbst ein Kind, das um den Baum tanzt, rundum, rundum. Dann umarmt sie seinen starken Stamm, streicht mit den Händen sanft über die rissige Rinde, bis sie selber Rinde sind, drückt den Leib an den Stamm, bis er Stamm wird und ihr im Nachtwind sich bauschendes Haar zu feinem Blattgespinst.