Textminiaturen

Hier finden Sie kurze Texte zu verschiedenen Themenbereichen

 

Manchmal kann man vieles in nur wenigen Worten sagen.

Eine kleine Geschichte von Sabinchen

Was ein kleines Mädchen von seinem Engel lernt.

 

Sabinchen hatte Angst vor den krabbelnden und kriechenden Tierlein, mochten sie auch noch so klein sein. Lief  ihr eine Ameise über den Weg, so wagte sie nicht mehr, weiter zu gehen, kroch ein Wurm aus der Erde, wenn sie diese mit ihrer kleinen Schaufel umgegraben hatte, so ließ sie voller Angst die Schaufel fallen und wollte nicht mehr weiter spielen. Das konnte der Engel, der sie begleitete, nicht mehr mitansehen. So beschloss er, sich für Sabinchen sichtbar zu machen. Dabei dachte er mit so viel Liebe an das kleine Mädchen, dass seine Liebe zu Licht kristallisierte und das Licht Gestalt annahm, so Gestalt, wie Sabinchen sich ihren Engel dachte, mit langem, blondem Haar und sanften Gesichtszügen und großen, bunt schillernden Flügeln. Dann hob er eine kleine, unansehnliche Raupe aus dem Gras und setzte sie auf seinen Handrücken. Da aber der Engel sich nicht fürchtete, fürchtete sich auch Sabinchen nicht und trippelte näher und war schließlich so nahe an dem Engel, dass sie die Raupe hätte berühren können. In diesem Augenblick richtete die Raupe sich auf und blickte Sabinchen an. Da war Sabinchen ganz wundersam zumute, denn sie konnte durch die raue Raupenhaut hindurch mitten in die Seele des Tierleins schauen, und diese Seele war so prächtig, viel prächtiger, als es der schönste Palast auf Erden sein mochte. „Sie ist ein Wunder Gottes“, sprach der Engel und ließ die Raupe auf Sabinchens Handrücken krabbeln. „Sie ist ein Wunder Gottes“, wiederholte Sabinchen voll Ehrfurcht und hatte von da an alle Tierlein lieb, auch die krabbelnden und kriechenden.

 

„Es gibt vieles, wovor man sich auf dieser Welt fürchten kann, aber vieles mehr zu lieben“, sprach der Engel und zog sich wieder ins Unsichtbare zurück.

Drei neue Herzen für Rosa

Rosa ist stets  um das Glück der anderen besorgt.  Dabei vergisst sie ganz auf das eigene Glück und wird krank.

 

Es hatte sich in der Stadt schnell herum gesprochen, dass Rosa, die gut war zu den Menschen, den Tieren, und zu den Pflanzen, drei neue Herzen brauchte und alle, die Rosa lieb hatten, waren verzweifelt und rätselten und grübelten und grübelten und rätselten, wie sie Rosa helfen konnten. Doch niemand wusste Rat, selbst die allerbesten Ärzte der Stadt nicht, und die arme Rosa wurde immer schwächer.

 

Da kam eines Tages ein junger Mann in die Stadt, der schon viel in der Welt herum gereist  war und behauptete, einen Herzkaufladen gesehen zu haben. Als die Menschen der Stadt das hörten, lachten sie und tippten sich auf die Stirn. Der junge Mann aber kümmerte sich nicht um die Spötter und überredete Rosa, mit ihm zu kommen.

 

So ging sie mit ihm fort, aus dem Haus und aus der Stadt und durch einen Wald und schließlich gelangten sie an ein abgelegenes Dorf im Talgrund eines hohen Berges. Am Kirchplatz des Dorfes aber standen mehrere Jahrmarktsbuden, und der junge Mann rief fröhlich: „Rosa, nun sind wir endlich da, hier ist der Herzkaufladen!“ Und er führte sie vor eine der Buden, die übervoll war mit den wunderschönsten Herzen in allerlei Größen und mit verschiedenster Zierart. „Suche dir aus, welche dir am besten gefallen“, sprach der junge Mann. Da überlegte Rosa lange, lange und griff dann nach jenen Herzen, die ihr am besten gefielen. „Ei ja“, rief erfreut der junge Mann, „nun hast du drei neue Herzen!“ und hing sie ihr an bunten Bändern um den Hals.

 

 

„Mmh“, sprach Rosa, „wie die duften“, und roch glückselig an den Lebkuchen.

Zeitungsbericht

Vieles ist heutzutage möglich und gleichzeitig unmöglich. 

 

 

London-Wien

 

Durchbruch in der Schönheitschirurgie

 

Soeben ist ein sensationeller Erfolg in der Schönheitschirurgie bekannt geworden. Der aus Wien stammende Dermatologe Dr. mult. Wunibart K. Frauenglück führte an einer der berühmtesten Londoner Privatkliniken die erste erfolgreiche Häutung durch. Wie unsere Londoner Korrespondentin berichtet, hat er einer fünfundzwanzigjährigen Patientin aus Uldakstan, die sehr unter ihren Augen- und Mundfalten und an ihrer Zellulitis am Gesäß und an den Oberschenkeln litt, die Haut abgezogen und dafür die Haut einer etwa vierjährigen, frisch gehäuteten Pythonschlange übergezogen. Sowohl die Pythonschlange, als auch die fünfundzwanzigjährige Patientin, sind wohlauf. 

Nun wird überlegt, diese chriurgische Technik auch an anderen Kliniken anzuwenden.  

Nachmittag eines Dichters

Nachmittag eines Dichters, nicht mehr und nicht weniger. 

 

Er  ist noch einer von der alten Sorte, sozusagen, schreibt auf einer Schreibmaschine der Type „Adler“, hat eine Zigarette im Mundwinkel und ein Gläschen Rotwein in Griffweite. Er zieht beim Schreiben die Vorhänge zu, da Tageslicht ihn ablenkt, und nimmt den Telefonstecker aus der Steckdose, um jegliche Störung von außen zu vermeiden.

 

Seine Inspirationen bezieht er aus den Tageszeitungen. Mordundtotschlag haben etwas Archaisches, das ihn zu glühenden Heldenepen anregt, die er dann rauchend, Zug um Zug, und trinkend, Schluck für Schluck, in die Maschine hackt und erst innehält, bis der erste Hahnenschrei zu vernehmen ist. Dann geht der Dichter zufrieden zu Bett. Er weiß um sein Genie und schläft ruhig und fest bis zum Nachmittag.

Schnee in Szogantanien

Sie kannten keinen Schnee in Szogantanien. Szogantanien ist eine kleine chinesische Provinz und liegt hinter den Szogantanischen Bergen.  

 

Es lebten dort vier Personen. Amadeus, der von einem anderen Planeten stammte, Josefine, ein kleiner Hund, Fred, eine Gans und Carol, eine Weihnachtskatze. Sie wohnten in kleinen Holzhäusern mit dünnen Wänden und keiner von ihnen hatte einen Ofen. Wozu auch.

 

Eines Tages jedoch begann es aus heiterem Himmel zu schneien, und die vier Szogantanier froren sehr. Sie hatten nämlich auch keine Mützen, Mäntel, Schals und Schuhe.   „Was tun gegen die zunehmende Kälte?“ jammerten sie, doch Amadeus, der mehr wusste als die anderen, schließlich war er ja ein Außerirdischer und Außerirdische wissen bekanntlich  immer mehr, Amadeus also sagte: „Seid unbesorgt. Es schneit nur im Jahr der Kokusnuss und das Jahr der Kokusnuss ist morgen wieder vorüber.   Da freuten sich alle sehr, kuschelten sich aneinander und schliefen ein.

 

Als sie am nächsten Morgen erwachten, hatte es zu schneien aufgehört.  Amadeus hatte Recht gehabt.