Lillis Engel

Eine Neujahrsgeschichte

Das kleine Mädchen Lilli möchte in den Himmel schauen und bittet seinen Engel um Hilfe. Er hat auch eine Idee.

 

Erschienen ist diese beschauliche Kindergeschichte in der Anthologie "Unter dem Weihnachtsstern, weihnachtliche Geschichten und Gedichte" (EPLA-Verlag 2010)

 


Lilli hatte einen Engel. Dies ist ja an sich noch nichts Besonderes, da alle einen Engel haben, alle Geschöpfe Gottes, selbst das allerkleinste Würmchen und das unscheinbarste Blümchen und der nichtssagendste Stein haben einen Engel.

 

Das Besondere an Lilis Engel war, dass sie ihn sehen konnte und hören und mit ihm sprechen, natürlich nicht so wie man üblicherweise Menschen sieht, hört und mit ihnen spricht, mit den Ohren und mit dem Mund, sondern mit dem Herzen. Nur angreifen konnte sie ihren Engel nicht, denn er war aus ganz feinen Lichttropfen geschaffen, aber das war nicht so schlimm, denn es schien ihr wunderbar genug, ihren Engel zu hören, zu sehen und mit ihm sprechen zu können. Das konnte man mit den Engeln der anderen nicht. Lilli wusste das, denn sie hatte ihre Freundinnen Evi und Susi danach befragt, und die hatten ihre Engel nie gesehen, gehört oder gesprochen, ja, sie glaubten nicht ein Mal an ihre Engel, was Lilli sehr betrüblich fand. Aber wahrscheinlich war ihr Engel gar nichts Besonderes, wahrscheinlich war es Lilli selber, denn es wäre wohl auch ihr Engel unsichtbar und unhörbar und stumm gewesen, wenn sie nicht an ihn geglaubt hätte.

 

Natürlich hatte Lillis Engel auch einen Namen, aber der darf nicht verraten werden, er ist ein Geheimnis zwischen dem Engel und dem Menschen, den er durchs Leben begleitet. Nennen wir ihn also einfach Lillis Engel.

 

Lilli war also überglücklich mit ihrem Engel, denn er beschützte sie und ließ sie niemals alleine. Er ging mit ihr in den Keller, wenn sie ihr Fahrrad holte, er war bei ihr  in der Schule, wenn sie sich bei den Rechenübungen nicht auskannte (der Engel konnte zwar auch nicht gut rechnen, aber seine stärkende Nähe nahm ihr die Angst, und gleich gelang alles viel besser) und er war bei ihr, wenn die Mutti abends nach der Gutenachtgeschichte nicht bei ihr bleiben konnte, weil sie noch Arbeit hatte. Der Engel war einfach immer bei Lilli. Es genügte, an ihn zu denken, und schwuppsdiwupps erschien er schon,  auch wenn er gerade zu Hause im Himmel war. Nein, wirst du sagen, das ist nicht möglich. Aber doch, es ist schon möglich, frage Lilli, sie wird es dir bestätigen. Der Engel kann gleichzeitig im Himmel und auf der Erde sein und, wie Lili von ihm erfahren hatte, ist das auch bei den anderen Engeln ganz genau so.

 

Natürlich hätte ihn Lilli gerne im Himmel besucht, vor allem am Heiligen Abend, wenn das Geburtstagsfest des Christkindes gefeiert wird, und alle Engel musizieren und singen und die Sterne in ihrem schönsten Glanz erstrahlen. Auch die Oma, die kurz vor Weihnachten gestorben war, hätte sie so gerne wieder gesehen, aber der Engel hatte auf all ihr Drängen nur mit einem abwehrenden Achselzucken geantwortet, denn er hatte nicht die geringste Idee, wie dies zu bewerkstelligen war und hoffte daher insgeheim, dass Lilli über all ihrer Weihnachtsfreude  ihren Wunsch vergessen würde.

 

Als der Heilige Abend aber vorüber war, hatte Lilli ihren Wunsch natürlich nicht vergessen, und es war nun an dem Engel, ihr die schmerzhafte Wahrheit eingestehen zu müssen. Ach, hatte Lillis Engel also geseufzt, das ist ganz und gar nicht möglich, du bist viel zu schwer, du bräuchtest eine Lichttropfengestalt wie ich. Aber sieh doch, bettelte Lilli, ich kann mich ganz leicht machen, und schon tänzelte sie auf Zehenspitzen im Zimmer herum. Du bist immer noch zu schwer, antwortete der Engel betrübt. Aber die Oma, das weißt du doch, die war viel schwerer als ich, beharrte Lilli. Schon, schon, sagte Lillis Engel, aber die Oma ist eben ohne ihren Körper gereist und ist nun ebenso licht und leicht wie alle anderen Himmelskinder auch. Dann reise ich eben auch ohne meinen  Körper, trotzte Lilli. Dann kannst du aber nicht mehr zurückkehren, willst du das? Ich will alles, antwortete Lilli, und stampfte mir ihrem rechten Bein trotzig auf, in den Himmel will ich  reisen und wieder zurück zur Erde. Das geht nicht, erwiderte Lillis Engel mit Bestimmtheit, das können nur wir Engel. Da wurde Lilli ganz nachdenklich und still. Was ist, kleine Lilli, fragte der Engel besorgt. Ich denke an die Oma, antwortete Lilli, sie hat uns wohl gar nicht recht lieb, denn sie hat sich gegen uns entschieden und uns verlassen. Aber nicht doch, kleine Lilli, erwiderte der Engel, sie hat euch sogar sehr lieb und denkt immerzu an euch, doch du weißt ja, dass sie in ihren letzten Erdentagen so krank und schwach geworden war, dass sie ihr Bett nicht mehr verlassen hatte können, und dabei wäre sie so gerne gehüpft und gesprungen, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. Schließlich war sie so schwach geworden, dass sie nicht ein Mal mehr essen und trinken hatte können. So kam es, dass ihr der Liebe Gott geholfen hat,  das schwere Erdenkleid auszuziehen und das neue, leichte Himmelskleid anzuziehen. Jetzt kann sie wieder nach Lust und Laune hüpfen und springen.

 

Es war wunderbar, was der Engel da erzählte, und Lilli freute sich  für ihre Oma. Gleichzeitig aber dachte sie darüber nach, ob es vielleicht nicht doch noch eine Möglichkeit gab, wenigstens ein bisschen Himmel zu schauen, wenn es schon nicht ging, ihn zu besuchen. Sie rückte ihren Schemel ans Fenster und blickte sehnsüchtig  in die Nacht hinaus. Es hatte geschneit und Wald und Wiese schimmerten demanten  im milden Licht des Mondes. Ich spüre Deine Sehnsucht, kleine Lilli, sprach der Engel, und wünschte sich in diesem Augenblick nichts mehr als ein Erdenkleid, um die Flügel tröstend um seinen kleinen Schützling legen zu können. Wenn ich schon nicht hinauf kann in den Himmel, bettelte Lilli, so lass mich doch  wenigstens ein bisschen hinein schauen, nur ein ganz kleines, itzibitzikleines Bisschen! Weißt du, ich stelle  mich so wie jetzt ganz einfach ans Fenster und  du fliegst hinauf und öffnest mir einen winzigen Spaltbreit das Himmelstor. Ich will auch nur mit einem Auge schauen, ich verspreche es dir, lieber Engel, ich verspreche es dir ganz fest. Da überlegte und überlegte der Engel, wie er Lillis Wunsch erfüllen konnte und wiegte sein schönes Haupt nachdenklich abwechselnd mal zur rechten und dann wieder zur linken Seite, sodass seine langen, goldenen Locken wie helle Glöckchen klangen, aber es wollte ihm nichts einfallen, gar nichts. Da legte sich Lilli schließlich zu Bett und schlief traurig ein, während der nachdenkliche Engel bei ihr wachte.

 

Als Lilli am nächsten Morgen erwachte, saß der Engel immer noch auf dem Rande ihres Bettes, aber er blickte nicht mehr so nachdenklich wie abends zuvor, sondern begrüßte sie vielmehr mit einem strahlenden Lächeln. Guten Morgen, kleine Lilli, rief er fröhlich, ich glaube, ich habe die Lösung! Lilli setzte sich mit einem Ruck in ihrem Bett auf und guckte den Engel hoffnungsfroh an. Sag an, lieber Engel, sag an, wie das geschehen soll, rief sie entzückt und wollte ihm ein Küsschen geben. Gemach, gemach, wehrte der Engel verlegen ab und seine Lichttröpfchen begannen rötlich zu schimmern, und  für ein kleines Weilchen verstand  er  die Erdenbewohner, die ihr Erdenkleid so lieb hatten. Man muss natürlich den günstigsten Augenblick wählen, sprach der Engel weiter. Und der wäre, fiel ihm Lilli ungeduldig ins Wort. Und der wäre, setzte der Engel fort, wenn der Engel des  alten Jahres sich in den Reigen seiner Ahnen zurückzieht und die Bewohner des Himmels und der Erde freudig dem Engel des Neuen Jahres entgegen tanzen, ja, dann wird die Himmelstüre wieder ein klein wenig offen stehen und es kann vielleicht geschehen, dass du ein kleines Bisschen, ein itzibitzikleines Bisschen, in den Himmel schauen kannst, gerade so viel, wie es einem Menschenwesen, das noch auf  Erden wohnt, eben erlaubt ist. Da es dir ja auch  möglich ist, mich zu schauen, kann es gelingen. Aber das sind ja noch sechs Tage, sagte Lilli, und zählte mit den Fingern die Tage bis zu Silvester nach. Ja, es sind noch sechs Tage, sagte Lillis Engel, sechs wunderbare Weihnachtstage. Es ist eine heilige Zeit, Lilli, man muss den Himmel nicht unbedingt schauen, um ihn zu fühlen.

 

Der Engel sollte  Recht behalten, es waren sechs himmlische Weihnachtstage. Die Eltern hatten ganz viel Zeit  für die kleine Tochter, spazierten mit ihr durch den Winterwald oder rodelten mit ihr über verschneite Wiesenhänge und abends, wenn es draußen dunkel und kalt geworden war, stellte Mutti warmen Kakao und Kekse auf den Tisch, und  Vati erzählte  Geschichten von Schneemännern, von Elfen und von Zwergen und Lilli lauschte entzückt. Vor dem Schlafengehen saß Lilli dann lange noch unter dem glitzernden Christbaum und spielte mit all den schönen Dingen, die sie am Heiligen Abend bekommen hatte.

 

Und plötzlich war er da, der Silvestertag. Noch ein Mal wurden die Kerzen auf dem Baum angezündet, man goss mit einem Löffel flüssiges Blei in eine Schüssel mit kaltem Wasser, versuchte sich darin, aus den daraus entstandenen Gebilden die Zukunft zu deuten und Mutti servierte fettiges, heißes Germgebäck. Freilich durfte Lilli am Silvestertag länger auf bleiben als an den anderen Tagen des Jahres, dennoch musste sie früher zu Bett gehen als die Erwachsenen. In all den Jahren zuvor war sie damit ganz und gar nicht einverstanden gewesen, dieses Mal aber ging sie, sehr zum Staunen der Eltern, ohne Widerrede zu Bett.

 

Schließe nur schnell die Augen, sagte Lillis Engel, als Mutti die Kinderzimmertüre behutsam hinter sfich geschlossen hatte, schließe nur schnell die Augen, damit du zur Mitternacht ausgeschlafen bist, ich werde ganz gewiss nicht vergessen, dich zu wecken. Da schloss Lilli gehorsam die Augen, denn auf den Engel war Verlass, das wusste sie.

 

Lilli erwachte von einem hellen Glockenton und  sah, wie sich der Engel fröhlich lachend im Zimmer drehte, rundumrundum, und seine Goldlocken bei jeder Drehung um seinen Kopf wirbelten und dabei leise läuteten. Steh auf, kleine Lilli, lockte der Engel, es ist gleich Mitternacht, und ich will dem Engel des Neuen Jahres entgegen tanzen. Da strampelte Lilli die Tuchent von sich, schwang sich mit dem Teddybären unter dem Arm aus dem Bett, und tanzte fröhlich hinter dem Engel her, rundumrundum, bis   sie am Fenster angelangt waren und als der Engel zum Fenster hinaus tanzte, wandte er ihr noch ein Mal sein schönes Antlitz zu und sprach, liebe Lilli, lasse deine Gedanken nun immerzu mit mir tanzen, dann glitt er schwebenden Schritts aus dem Fenster, spannte seine silber schimmernden Flügel ganz weit aus und flog hinauf zu den Wipfeln der Bäume, und noch höher, hinauf zu den Wolken, und immer höher, bis zu den Sternen hinauf und Lillis Gedanken folgten der Glitzerspur, die der tanzende Engel durchs Nachtblau zog.

 

Da erschien plötzlich eine riesige, leuchtende Gestalt am Himmel, die mit unschuldigen Kinderaugen gar friedlich auf die Erde hinab blickte. Es war der Engel des Neuen Jahres, und als  er gerade dabei war, seine weiß gefiederten Schneesternflügel auszubreiten und zum Fluge erdwärts anzusetzten, konnte Lili ein kleines Bisschen, ein itzibitzikleines Bisschen, in den Himmel schauen. Zuerst mit einem Auge, dann aber mit beiden, und Lillis Engel rief, ja, öffnet sie nur weit, ganz weit, deine Augen, damit du die Herrlichkeit des Himmels niemals vergisst, und Lili sah ein Licht, das heller und klarer und schöner war als jedes Licht, das sie jemals auf Erden hatte schauen dürfen, und obwohl es so hell war und klar, das Himmelslicht, tat es gar nicht in den Augen weh.

 

Inmitten des Lichts aber stand ein kleines Mädchen an einem Fenster, hielt seinen  Teddybären im Arm und blickte mit großen, weit geöffneten Augen himmelwärts. Das bin ja ich, rief Lillii staunend aus. Ja, das bist du, sagte Lillis Engel, denn die Herrlichkeit des Himmels beginnt in dir. Dein kleiner Himmel ist das itzibitzikleine Bisschen Himmel das ein Mensch, der noch auf Erden wohnt, schauen darf.

 

Lilli und ihr Engel, der gleichzeitig im Himmel und auf Erden war, sahen nun gemeinsam den Engel des Neuen Jahres,  der gerade durch das Sternenschnuppenmeer tanzte. Da stoben diese funkelnd auseinander und purzelten zur Erde. Für jedes Erdenwesen eine, sprach Lillis Engel und steckte ihr im selben Moment eine Sternschnuppe ins Haar.

 

Dann begann er wieder fröhlich lachend sich im Zimmer zu drehen, rundumrundum, und Lilli mit dem Bären im Arm tanzte mit, rundumrundum, während am nachtdunklen Himmel leuchtende Raketen pfeifend aufstiegen. Der Engel des Neuen Jahres war auf Erden angekommen.