Ensomheden

Einsamkeit

 

Um etwas Abstand von ihrer Familie zu gewinnen, möchte Siri einige Zeit auf der Insel Ensomheden verbringen. Doch dann kommt alles anders, als gedacht. 

 

Erschienen ist diese surreale Geschichte in der Zeitschrift "Der literarische Zaunkönig" der Erika Mitterer Gesellschaft (Nr. 3/2014)

 

Anmerkung: Ensomheden ist eine kleine, unbewohnte Insel in der Arktis.


Ensomheden. So könnte ein Traum sein, bizarr und unerklärlich, aus dem Traum aber gibt es Erwachen, auf Ensomheden nicht“, dachte Siri, als sie die rotkarierten Scheibenvorhänge zur Seite schob, und mit dem Fingernagel versuchte, die Eisblumen vom Fenster weg zu kratzen. Es war ein sinnloses Unterfangen, durch das sich die Sicht nicht verbessern würde, da sich schon seit Tagen der Nebel wie eine dicke, graue Haube über ihre Wohnbaracke gestülpt hatte, aber sie brauchte diesen Akt der Auflehnung, um nicht endgültig zu verzweifeln.

 

Siri hatte eine wunderbare Zeit auf Ensomheden verbringen dürfen, doch nun geriet ihr dieses Paradies zusehends zur Hölle, und sie ersehnte nichts mehr, als zurück zu Sven und den Kindern zu reisen.

 

Sie dachte an ihre Ankunft und an das Glück, das sie empfunden hatte, als dieses wundersame Eiland, das einem Delphin glich, der mitten im Sprung im Polarmeer fest gefroren war, plötzlich vor ihr lag. „Ensomheden, Insel der Sehnsucht und der Träume, Zauberland im offenen Meer“, hatte sie  mit bebenden Lippen gesprochen, „ich komme.“

 

„Kein gutes Land, um Urlaub zu machen, Mütterchen“, hatte einer der Fischer, auf deren Kutter sie hatte mitfahren dürfen, auf seine trockene Art fest gestellt, als sie am Strand anlegten. Sie aber hatte lächelnd abgewunken. Auf dieser Insel würde sie gewiss jene Ruhe finden, derer sie so dringend bedurfte. Unverzagt hatte sie daher ihren Fuß auf das gefrorene Eiland gesetzt und den Fischern, als sie vom Ufer wieder ablegten und mit dröhnenden Motoren wendeten, ein fröhliches Lebewohl zu gerufen. Schaumkrone um Schaumkrone war der Fischkutter entschwunden, bis schließlich nur mehr Schaumkronen zu sehen waren, Schaumkronen auf dem weiten, weiten Meer. Und es war still geworden, sehr still, sogar die Möwen, die zuvor mit spitzen Schreien über dem Kutter gekreist waren, saßen nun regungslos und schweigsam am Ufer. Siri hatte ihren Rucksack geschultert und ihren kleinen Koffer hoch genommen und war langsam auf die winzige Wohnbaracke, die nur ein kurzes Wegstück entfernt lag, zugeschritten. Ihr Reisegepäck war nicht schwer, denn sie trug die gesamte wärmende Kleidung am Leibe, Schal, Kapuzenmantel, Fäustlinge, Haube und dick gefütterte Stiefel, und hatte nur Unterwäsche und ein paar Toilettesachen, sowie Streichhölzer, einige Konservendosen, einen Büchsenöffner, Trockenfrüchte und Nüsse eingepackt. Den meisten Platz nahmen ihre Schreibblöcke ein, sie hatte derer mindestens vier dabei, weiters hatte sie viele Bleistifte, einen Radiergummi und einen Bleistiftspitzer mitgenommen. In der Brusttasche an der Innenseite ihres Kapuzenmantels aber befand sich ein zerlesenes Reclamheftchen mit Rilkegedichten. Mehr brauchte sie nicht auf Ensomheden. Sie wollte ja auch gar nicht lange bleiben. Zehn Tage, vielleicht auch elf oder zwölf, je nachdem, wann die Fischer wieder vorbeikommen und sie auf das Festland zurückbringen würden.

 

Immer wieder hatte Siri im Gehen inne gehalten, um die karge Schönheit der Insel zu bestaunen, die bizarren Steinformationen, die Gräser mit den weißen Wattedolden an den Spitzen, die beim leisesten Lufthauch bebten, und den nahen Hügel, dessen schneebedeckte Flanken im klaren Licht des Morgens kristallen funkelten. Schließlich war sie bei der Baracke angekommen. Sie war aus flaschengrünem Holz gebaut und mit einem grauen Wellblech gedeckt. Neugierig war Siri die wenigen Stufen zu dem kleinen Vorbau, durch den man in die kleine Hütte gelangte, hinangestiegen. Die Türe hatte einen Spaltbreit offengestanden, und Siri war eingetreten. Es schlug ihr eine muffige Kälte entgegen, aber einen Augenblick später schon hatte sie zu ihrer großen Erleichterung einen kleinen Eisenofen erblickt, dessen Rohr sich wie ein rostiger Elefantenrüssel an die Holzwand klammerte. Auch Brennholz gab es. Sie entdeckte es, gemeinsam mit leeren Flaschen und Konservendosen, als sie durch eine schmale, nach oben hin gerundete Türe, auf welcher in roten, verbleichenden Blockbuchstaben das Wort „BAR“ geschrieben stand, in einen Abstellraum gelangte. Der spärliche Lichtsreifen, der gleich einem verirrten Engel durch das einzige, winzige Fenster in den Dämmer schwebte, hatte Siri nun erkennen lassen, dass die Hütte in einem erbärmlicheren Zustand war, als sie es erwartet hatte. Die Malerei an den Wänden, dunkelgrüne Palmblätter auf lindgrünem Hintergrund, war größtenteils herabgeblättert. Immer wieder fehlten Bretter aus dem Fußboden, Leerräume, aus denen nun grauer, kalter Beton zum Vorschein kam. Überall, auf dem Boden, auf dem klapprigen Holztisch vor dem Fenster, auf dem ungemütlichen Stahlrohrbett in der Zimmerecke daneben, auf dem Korbsessel, der wie verloren in der Mitte des Raumes stand, und auf den hölzernen Regalen, die, notdürftig zusammen genagelt an den Wänden lehnten, lagen sämtliche meteorologische Messgeräte für Wind, Temperatur, Luftdruck und Strahlung, Zeugen einer längst vergangen Zeit, als die Hütte noch eine Wetterstation gewesen war. Aber Siri war ja auch nicht gekommen, um zusammenzuräumen und hatte ihr Reisegepäck, wie es war, den Rucksack und den kleinen Koffer, neben das Stahlrohrbett gestellt. Sie wollte ja auch gar nicht lange bleiben. Zehn Tage, vielleicht auch elf oder zwölf, je nachdem, wann die Fischer wieder vorbeikommen und sie auf ihrem Kutter zurück aufs Festland bringen würden.

 

Noch am selben Tag hatte Siri mit ihren Streifzügen über die Insel begonnen, die ihr zur lieben Gewohnheit werden sollten, war, am Moor vorbei, zum Schnee bedeckten Hügel gegangen, war zum Langen Bach gewandert und zum Bärensee, hatte den Strand an der Nordlagune abgewandert und war schließlich wieder an ihrer Holzbaracke angekommen. Überwältigt von der kalten Schönheit der Insel, von der Stille, von der Weite des Himmels und des Meeres, verzaubert vom silbernen Licht der Sonne, das Tag und Nacht die Insel umspielte und gleichsam alles von innen her zum Leuchten brachte, fand sie keine Worte, die würdig genug gewesen wären, das Wunderbare zu beschreiben. Schreibblöcke und Bleistifte ruhten ungebraucht. Das gleiche war den Rilkegedichten widerfahren. Man kann kein Gedicht lesen, wenn ringsum alles Poesie ist. Siri war nur mehr Schauen, Staunen, Empfinden. Siri war glücklich.

 

Es mochte wohl eine Woche vergangen sein, als das Meer tief ausatmete und sein Atem zu Schneeflocken kristallisierte. Winter begann sich auszubreiten. Zuerst hatte Siri ihre helle Freude an den kalten Sternen gehabt, von denen jeder einzigartig war, filigran verzweigte, fein ziselierte Wunderwerke. „Engeltränen“ hatte sie gedacht. Als es aber nicht mehr zu schneien hatte aufhören wollen, als alles Vertraute, das Moor, der Hügel, der Lange Bach und der Bärensee, allmählich unter einer dicken Schneeschicht verschwand und Siri gezwungen war, in der Hütte zu bleiben, begann sich das anfängliche Glücksgefühl in Beklommenheit zu wandeln. Es war ihr, als legten sich Schnee und Stille auf ihre Lunge und hemmten sie am Atmen. Noch aber hatte sie Hoffnung gehegt, Hoffnung, dass Motorenlärm sich nähern und der Fischkutter mit kühnem Schwung ans Ufer kommen und anlegen würde. „Kein gutes Land, um Urlaub zu machen, Mütterchen“, würde dann vielleicht einer von ihnen auf seine trockene Art festgestellt haben, „aber jetzt sind wir ja da und werden dich mit aufs Festland nehmen.“ Doch dem Schneefall war Frost gefolgt. Eis wuchs und wuchs, hatte sich am Strand fest genagt, wuchs und wuchs immerzu, und schließlich war die Insel völlig im Eis eingeschlossen. Kein Fischkutter würde jetzt mehr nach Ensomheden gelangen können.

 

Siri versuchte, mit dem Fingernagel die Eisblumen vom Fenster wegzukratzen. Ein vergeblicher Akt der Auflehnung gegen das Wintergrau, wie auch der flaschengrüne Anstrich der Baracke und die dunkelgrünen Palmblätter auf lindgrünem Hintergrund an den Innenwänden ein vergeblicher Akt der Auflehnung waren. „Ensomheden. So könnte ein Traum sein, bizarr und unerklärlich, aus dem Traum aber gibt es Erwachen, auf Ensomheden nicht“, dachte Siri verzweifelt.

 

Allmählich gingen auch die Brennholzvorräte zur Neige und leere Konservenbüchsen stapelten sich neben den wenigen, die noch Essbares enthielten. Sehnsüchtig dachte Siri an Sven und die Kinder, und sie dachte an Flucht. Doch wer kann schon dreihundert Kilometer bei Nebel und klirrender Kälte über das große, offene, spiegelglatte Eis wandern. „ Eisbären“, durchfuhr es Siri kalt, und sie erinnerte sich an einen Bericht, den sie vor vielen Jahren gelesen hatte. Mit Schaudern wurde ihr nun auch die Namensbedeutung des kleinen Binnensees, an dessen Ufer sie so gerne gestanden war, bewusst. Doch wenn sie nicht in der Einsamkeit sterben wollte, musste sie den Fluchtversuch wagen. Kurz entschlossen zog sie das gesamte wärmende Gewand an das sie hatte, den Schal, den Kapuzenmantel, die Fäustlinge, die Haube und die dick gefütterten Stiefel. Koffer und Rucksack ließ sie zurück. Wer über Eis wandert, muss unnütze Lasten vermeiden. Nur einen weißen Stein, der sie an den Zahn eines Drachen erinnerte, und den sie auf einem ihrer unzähligen Spaziergänge am Strand der Nordlagune gefunden hatte, und das zerlesene Reclamheftchen mit den Rilkegedichten steckte sie in die Brusttasche an der Innenseite ihres Kapuzenmantels. Dann schritt Siri, ohne sich auch nur ein Mal umzuwenden, zur Türe. Doch der Türriegel war vereist, und so sehr sie auch rütteln mochte, die Türe blieb verschlossen.Verzweifelt begann sie um Hilfe zu rufen. Doch, wer sollte sie auf Ensomheden hören? Ensomheden ist unbewohnt. Dennoch hörte sie nicht auf, zu rütteln und zu rufen, zu rufen und zu rütteln, oder, wurde sie gerüttelt? ----

 

„Wach auf“, sprach Sven mit gewohnt sanfter Stimme und rüttelte sie an der Schulter. Erstaunt öffnete Siri die Augen. „Du hast schlecht geträumt, mein Liebes“, setzte er fort und küsste zärtlich ihre Stirn. Morgenlicht fiel in sanften Garben in die Stube, und Siri hörte aus dem Nebenzimmer das fröhliche Lachen der Buben. Siri war zu Hause. Siri war glücklich. „Wo warst du denn heute Nacht?“ fragte Sven scherzend. „Auf Ensomheden“, antwortete Siri, „ich werde dir beim Frühstück davon erzählen.“

 

Am Abend schrieb Siri in ihr Tagebuch:

 

Mein Ensomheden,

Zauberland im offenen Meer,

Sehnsuchtseiland, Land der Träume,

gerne komme ich wieder her,

doch niemals mehr alleine.

 

Dann schloss sie das Tagebuch wieder und legte den weißen Stein, der sie an den Zahn eines Drachen erinnerte, und den sie auf einem ihrer unzähligen Spaziergänge am Strand der Nordlagune gefunden hatte, darauf.